VDI Research
Metaverse: Überblick und Perspektiven
Eine neues VDI Research Paper zum Thema Metaverse
Vorwort
Selten hat ein Begriff so schnell eine so große mediale Aufmerksamkeit erfahren wie das „Metaverse“, zu Deutsch „Metaversum“. Ausgangspunkt hierfür war die im Oktober 2021 von Mark Zuckerberg erfolgte Bekanntgabe, seinen Konzern Facebook in „Meta Platforms“ umzubenennen und die damit verbundene strategische Neuausrichtung.1 Die Aufregung war groß, da zu Meta die weltweit von Milliarden Menschen genutzten sozialen Netzwerke wie Facebook, Instagram und WhatsApp gehören. Bei der Berichterstattung zum Metaverse fällt auf, dass in der Thematik offensichtlich inhaltliche Unsicherheit herrscht. Dieses Paper möchte hierzu Orientierungswissen geben.
Bereits jetzt wird versucht, den zukunftsträchtigen Begriff Metaverse zu Marketingzwecken zu nutzen: Beispielsweise laden große Unternehmen schon heute in ihr „Metaverse“ ein. Doch warum derartige Verwendungen des Begriffs der Grundidee eines Metaverse nicht gerecht werden, zeigen die folgenden Ausführungen. Dieses Paper von VDI Research soll allgemein verständlich sowohl Grundlagen vermitteln als auch einen Ausblick auf mögliche Entwicklungen des Zukunftsthemas Metaverse geben.
Bausteine des Metaverse und seiner Vorstufen
Da der Begriff Metaverse im Kontext sehr heterogener Anwendungsszenarien verwendet wird, werfen wir zunächst einen Blick auf die Bausteine, die ein Metaverse und seine Vorstufen charakterisieren. Im Kern geht es um das Erleben einer neuen, komplexen virtuellen Welt, die der Mensch nach seinen Vorstellungen gestalten kann und die Aktivitäten nahezu aller Lebensbereiche einschließt.
An eine Vorstufe, etwa die Integration von virtuellen Objekten in unsere Alltagsumgebung, haben wir uns gewöhnt: Navigationssysteme in unseren Fahrzeugen oder Smartphones fügen Hinweise zu anstehenden Fahrmanövern virtuell in unsere Umgebung ein, Pokémon-Fans jagen virtuelle Fantasiewesen beim Spaziergang oder wir rücken ein Sofa vor der Neuanschaffung in unserem Wohnzimmer schon mal virtuell hin und her. Viele weitere Beispiele für solche Augmented Reality (AR)-Anwendungen, also computergenerierte virtuelle Erweiterungen unserer tatsächlichen Umgebung/Realität, finden sich auch in der Industrie. Hier werden zum Beispiel Monteur*innen Informationen für die Wartung oder Reparatur von Maschinenteilen, auf die sie gerade den Blick richten, in speziellen „AR-Brillen“ eingeblendet. Auf diese Weise können ganze Arbeitsabläufe mit Werkzeug- und Materialbedarf schneller und zielgerecht vermittelt werden.
In der nächsten Stufe können Nutzende mit den virtuell in die Umgebung eingefügten Objekten interagieren. Zum Beispiel sehen wir durch spezielle Brillen ein virtuelles Display/Touchscreen in der Art eines Hologramms vor uns, das wir mit unseren Händen mittels Gesten bedienen können. Dieses vermischte Agieren zwischen Realität und Virtualität wird als Mixed Reality(MR) bezeichnet.2
Ein möglichst vollständiges Ausblenden der Realität möchte die Virtuelle Realität (VR) erreichen. Nutzende sollen also die Umgebung um sie herum idealerweise vollständig vergessen und stellvertretend in eine künstliche virtuelle Realität eintauchen, in der sie agieren und interagieren können. Verwendet werden dazu meistens VR-Headsets mit eingebauten Displays, die aktuell noch die Größe von Taucherbrillen haben, sowie kleine Handcontroller. Seltener, da aufwendiger, gibt es auch nicht-mobile begehbare VR-Räume (VR-Caves), in denen sich Nutzende durch Mehrseitenprojektionen (4 oder 6 Großbildleinwände) ohne Headset frei bewegen können. Die Interaktion erfolgt dabei über Gestenerkennung.
Zusammenfassend lassen sich die drei vorgestellten Begriffe AR, MR und VR folgendermaßen charakterisieren: Bei AR wird die Realität um virtuelle Inhalte ergänzt, bei MR kann mit den virtuellen Ergänzungen interagiert werden und bei VR werden die Nutzenden in eine neue künstliche Realität gebracht, mit der sie interagieren. Als Oberbegriff für alle drei wird der Begriff xReality (XR) verwendet.3
Die Besonderheit von VR ist das intensive Eintauchen in durch den Menschen generierte künstliche Welten. Im Extremfall werden Eindrücke aus der umgebenden realen Welt gar nicht mehr wahrgenommen. Nutzende leben in diesem Moment nahezu vollständig in der virtuellen Welt. Hier spricht man von Immersion. Dieser Begriff beschreibt, wie intensiv die virtuelle Realität als real wahrgenommen wird. Der Grad der Immersion ist ein zentraler Erfolgsfaktor virtueller Erlebniswelten. Dieses Erleben wird intensiver, je mehr Wahrnehmungssinne der Nutzenden angesprochen werden. Vor der Erfindung des Buchdruckes erzählten sich Menschen zur Unterhaltung Geschichten. Für das „geistige Eintauchen“ der Zuhörenden in die Geschichten war die Fähigkeit, das Gehörte in Bilder umzusetzen – die Vorstellungskraft – eine wichtige Voraussetzung. Dies wird als mentale Immersion bezeichnet. Unter Umständen können fantasielose Zuhörende auch die unterhaltsamste Geschichte als langweilig empfinden. Seit der Entwicklung von Bewegtbildern, Schwarz-Weiß-Filmen, Farbfilmen usw. wird die Vorstellungskraft der Zuschauenden immer weniger gefordert. Stattdessen werden Augen und Ohren des Publikums mit multiplen Reizen erregt. Dadurch können Filmschaffende dem Publikum ihre audiovisuellen Vorstellungen detailliert vermitteln und schaffen es so, die Zuschauenden in den Bann des Filmes zu ziehen.
Im Vergleich zur Filmleinwand gehen die Möglichkeiten von VR-Techniken deutlich weiter, da sie in virtuellen Realitäten zusätzliche menschliche Sinne ansprechen können. VR-Brillen ermöglichen es, den Blick in einer virtuellen 360-Grad-Umgebung in Echtzeit dahin zu richten, wohin man gerade möchte. Nutzende können nach links, rechts, oben, unten, vorne und hinten schauen, verweilen und so „ihre“ virtuelle Umgebung selbstbestimmt betrachten. Durch VR-Tracking mit Kameras und Sensoren werden die eigenen (realen) Körperbewegungen direkt in die VR-Umgebung übertragen, sodass sich ein Gefühl von wirklicher körperlicher Präsenz in der VR einstellt (physische Immersion). Aktuelle Systeme verwenden zusätzlich Controller, die durch Finger-, Hand- bzw. Armbewegungen gezielte „Berührungen“ mit virtuellen Gegenständen ermöglichen. Die dadurch realisierbare aktive Interaktion in der VR ist der entscheidende Punkt, der den riesigen Möglichkeitsraum simulierter Wirklichkeiten aufspannt. Um Immersion und Interaktion in virtuellen Realitäten weiter zu steigern, wird an verschiedenen technischen Entwicklungen gearbeitet: Wearables und taktile Handschuhe, die Feedback in Echtzeit geben, omnidirektionale VR-„Laufbänder“, die physische Fortbewegung in virtuelle Fortbewegung umsetzen, Gesichtsmasken, die Riechen und Fühlen (bspw. Geruchs- oder Temperaturwahrnehmung) ermöglichen uvm.4m
Die künstliche Ansprache der menschlichen Sinne führt beim Eintauchen in virtuelle Welten bei einigen Nutzenden zu einer als Motion Sickness bezeichneten Übelkeit. Diese resultiert aus widersprüchlichen Wahrnehmungen visueller und bewegungsbezogener Sinne, die wir auch aus alltäglichen Situationen kennen. Wenn wir beispielsweise beim Autofahren nicht aus dem Fenster schauen, sondern in einem Buch lesen, melden unsere Augen Stillstand, während unser Gleichgewichtsorgan im Innenohr eine (Fort-)Bewegung wahrnimmt. Umgekehrt, aber mit dem gleichen Effekt, können wir nur durch Controllerbefehle in virtuellen Welten für unsere Augen eine Straße entlanglaufen. In Wirklichkeit bewegen wir uns aber nicht, was wiederum das Gleichgewichtsorgan wahrnimmt. Personen, bei denen sich hier kein Gewöhnungseffekt einstellt, dürfen auf technische Lösungen hoffen, die unter anderem versuchen, das Gleichgewichtsorgan passend zu den virtuellen Bewegungen künstlich zu stimulieren.5
Anwendungsmöglichkeiten von xReality-Technologien
Die Anwendungsmöglichkeiten von xReality-Technologien sind bereits heute über nahezu alle Branchen hinweg sehr vielfältig – auch ohne, dass man sich in ein Metaverse begeben muss. In der digitalen Spielebranche tauchen Millionen von Gamer*innen schon lange über Monitore und Displays in virtuelle Abenteuer, E-Sport oder (Ego-)Shooter ein. In diesen interagieren sie mit anderen virtuellen Gamer*innen, die sich irgendwo auf der realen Welt befinden, oder mit virtuellen Gegenständen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass kommerzielle VR-Headsets hier ihren Ursprung haben und sich aufgrund immer besser werdender Immersion und Tragekomfort steigender Beliebtheit erfreuen. Ohne Frage sind zur Steigerung des Immersionsempfindens Weiterentwicklungen von Headsets, VR-Laufbändern und anderen technischen Zugängen zu VR-Welten (z. B. Mensch-Maschine-Schnittstellen) notwendig und zu erwarten.
In der Industrie wurden die Potenziale von xReality-Technologien ebenfalls früh erkannt. Zu Beginn lag der Fokus auf AR-Anwendungen, wie die bereits erwähnten digitalen Zusatzinformationen, die auf Tablets oder mittels spezieller AR-Brillen in das Sichtfeld eingeblendet werden. Sie helfen bei der Wartung und Bedienung von Maschinen oder bei der Schulung von Mitarbeitenden, indem konkrete Handlungsanweisungen ortsspezifisch an der Maschine angezeigt werden. Aber auch digitale Zwillinge von Maschinen und Produktionsanlagen kommen zum Einsatz. Dafür werden komplexe Anlagen 1:1 virtuell nachgebaut, sodass Schulungen in VR erfolgen können. Auch das Verhalten in Gefahrsituationen kann so virtuell trainiert werden. Die Maschinen fallen damit nicht für die Produktion aus und Fehlbedienungen von unerfahrenen Arbeitskräften führen nicht zu teuren Schäden. Digitale Zwillinge helfen auch, die Produktentwicklung effizienter zu gestalten, insbesondere wenn verschiedene internationale Teams zusammenarbeiten. Missverständnisse, z. B. über den Platzbedarf von Teilkomponenten, werden vermieden, Bedienkonzepte optimiert oder der Aufwand für die Anfertigung und Anpassung von Prototypen reduziert. Natürlich lassen sich fertige Produkte virtuell auch viel anschaulicher und genauer den Kund*innen in einer praxisnahen Situation präsentieren. Es geht aber jetzt schon deutlich komplexer: Deutsche Automobilhersteller haben bspw. vollständige Produktionsfabriken vor dem Bau virtuell erstellt, sodass Planungsdetails leichter überprüft, flexibel geändert und wesentlich (kosten-)effizienter umgesetzt werden konnten. Die hier skizzierten Entwicklungen werden nicht nur bei großen Unternehmen, sondern auch bei KMU zu radikalen Veränderungen von Planungs-, Produktions- und Arbeitsprozessen führen.
Für den Bildungs- und Weiterbildungssektor bieten xReality-Technologien enormes Potenzial, Lernprozesse zu vereinfachen und zu beschleunigen. Lerninhalte können nicht nur besser visualisiert, sondern durch die Interaktionsmöglichkeiten leichter verstanden und nachhaltiger abgespeichert werden. So können sich Schüler*innen beispielsweise in einer virtuellen Pflanzenzelle bewegen, einen Markt im Mittelalter besuchen oder neue Sprachen in realistischen Lebenssituationen unbeobachtet erlernen.
In der Medizin kommen xReality-Technologien unter anderem in der Ausbildung zum Einsatz. Organe können aus allen Perspektiven betrachtet werden, komplexe anatomische Strukturen können so besser verstanden werden. Zudem können Operationstechniken realitätsnah trainiert und überlebenskritische Notfallsituationen ohne Gefährdung der zu behandelnden Person geübt werden. AR-Darstellungen verbessern während der Operationen die Orientierung und stellen wichtige Informationen übersichtlich aufbereitet dar. In der Medizin Tätige träumen von vollständigen individuellen digitalen Patientenzwillingen, die es ermöglichen, gezielt die beste Behandlungsmethode (Wirkstoffart, Wirkstoffmenge, Operationstechnik etc.) für jeden speziellen Fall zu ermitteln. Auch in der Therapie psychischer Erkrankungen kommen xReality-Technologien zum Einsatz: Von einer Angststörung Betroffene lernen zum Beispiel in virtuellen Welten, Platz-, Höhen- oder Flugängste zu kontrollieren.
Im Freizeitbereich ermöglichen xReality-Technologien in Zukunft gemeinsam mit Freund*innen den virtuellen Besuch von Konzerten oder Sportveranstaltungen, bei denen man immer in der ersten Reihe sitzt. Kunstschaffende müssen keine Galerien mehr überzeugen, ihre Werke auszustellen, da in virtuellen Galerien, die überall auf der Welt leicht besucht werden können, genug Platz ist. Virtuelle Reisen werden uns jeden Ort der Erde oder den Weltraum erlebbar machen, auch wenn wir durch Alter oder körperliche Einschränkung (z. B. Rollstuhl) nicht mehr mobil sind.
Charakter des Metaverse
Diese Beispiele zeigen, wie vielfältig virtuelle Erlebnisse sein können bzw. schon sind, da einige „VR-Experiences“, wie sie auch genannt werden, bereits existieren. Wozu dann noch ein Metaverse? Der Begriff Metaverse wurde durch den dystopischen Roman „Snow Crash“ bereits 1992 geprägt.6 Der Autor Neal Stephenson beschreibt darin, wie die Protagonist*innen in Form von Avataren in eine digitale Welt, das Metaverse, entfliehen. Das Metaverse wird im Roman als eine Aneinanderreihung von einzelnen VR-Welten – „Geschäften“ – entlang einer kreisförmigen Straße um einen Planeten beschrieben. Davon abgeleitet ist der Kerngedanke der aktuellen Diskussion um ein Metaverse, in dem alle möglichen/denkbaren VR-Welten unter einem einzigen Dach vereint sind. Im Metaverse muss man eine Anwendung oder ein Programm nicht verlassen, um eine andere Experience zu erleben. Alles befindet sich integriert in einer einzigen, unbegrenzten virtuellen Welt.
Momentan existieren zahlreiche kleinere virtuelle Welten „nebeneinander“. So kaufen beispielsweise im Gamingbereich Spieler*innen in einem VR-Spiel bestimmte Kleidungsstücke, die sie aber nicht in andere VR-Spiele mitnehmen können. Auch die Zahlungsmittel, die sie dazu verwenden, sind in der Regel nur in einem Spiel gültig. Im angedachten Metaverse als einzige unbegrenzte virtuelle Welt dagegen soll es digitale Besitzgüter wie Grundstücke, Gegenstände usw. geben, die in allen Bereichen ihren Wert haben (Interoperabilität) und die Eigentümer*innen wechseln können; Arbeit wird in einer (oder mehreren) Digitalwährung entlohnt.
Aktuell gibt es noch keine anerkannte allgemeingültige Definition des Metaverse. Es existieren aber, neben Eigenschaften wie Interoperabilität und digitale Besitztümer, weitere Kriterien, die je nach Perspektive alle oder teilweise an ein zukünftiges Metaverse angelegt werden. Das Metaverse soll demnach eine real wirkende, hochaufgelöste, offene virtuelle Welt mit einer unbegrenzten Anzahl von Nutzenden sein, die persistent, also „always on“ ist. Alles im Metaverse, etwa Spielen, Arbeiten, Einkaufen, Kultur erleben etc., soll in Echtzeit ablaufen (Synchronität). Angedacht ist es, das Metaverse dezentral zu organisieren. Wie bei „Snow Crash” soll keine zentrale Autorität existieren, also beispielsweise kein Staat regulativ eingreifen.
Dass in einem Metaverse viel Geld umgesetzt werden wird, stellt sicherlich einen zentralen Grund dar, warum Mark Zuckerberg im Oktober 2021 sein Unternehmen Meta mit der Umsetzung eines Metaverse platzieren wollte. Ohne Zweifel hat er damit eine öffentliche Aufmerksamkeitswelle ausgelöst, obgleich auch andere Player*innen, u. a. Apple, Microsoft, Google oder Epic Games, ebenfalls aktiv sind – nur eben weniger lautstark. Kritiker*innen befürchten die Folgen, wenn Akteur*innen, die ihre sozialen Netzwerke nicht ausreichend im Griff haben, eine umfassende virtuelle Welt gestalten wollen. Bestimmen einzelne Akteur*innen in einem eigentlich dezentralen Metaverse dann doch sämtliche Regeln und kassieren?
Hürden und Herausforderungen
Verschiedene technische Hürden (Rechenleistung etc.), fehlende Standardisierungen, Sicherheits- und Datenschutzfragen bremsen gegenwärtig die Entwicklung eines Metaverse. Darüber hinaus ergeben sich weitere Herausforderungen in Bezug auf die Umsetzung und auf den Fortbestand eines Metaverse. Eine dezentrale, komplexe virtuelle Welt mit den vielfältigen Tätigkeiten, die wir aus der realen Welt kennen, wird nicht vollends ohne Rahmenbedingungen und Regularien auskommen. Aus aktueller Perspektive rechnen die Autor*innen dieses Papers daher mindestens in den nächsten 15 Jahren noch nicht mit der Realisierung und Etablierung eines umfassenden Metaverse. Mark Zuckerberg sprach auf der Konferenz Connect 2021 von einem „langen Weg, der vor uns liegt“. Gleichzeitig versucht er die Aktionäre von Meta davon zu überzeugen, dass in fünf bis zehn Jahren viele Komponenten des Metaverse „Mainstream“ sein werden. Die Expertin Timoni West (Unity, ehemals Vice President, Augmented & Virtual Reality) geht eher von 2050 bis 2060 aus.7 Dies bedeutet aber nicht, dass das Thema für unser heutiges Handeln noch nicht relevant ist. Im Gegenteil, viele Entwicklungen und Vorstufen für ein Metaverse existieren bereits. Die Zeit sollte genutzt werden, um jetzt Chancen wie Risiken in den Blick zu nehmen. Sie müssen mit längerfristiger Perspektive schon heute Gegenstand verstärkter öffentlicher und politikgestaltender Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie ein notwendiger, einheitlicher, weltweit gültiger Wertekatalog aussehen kann. Um diesen für ein globales Metaverse zu entwickeln, sind nationale und internationale gesellschaftliche Diskurse notwendig. So ist es zu begrüßen, dass sich die EU über Regulierungsinstrumente in digitalen Räumen wie dem Metaverse bereits Gedanken macht8, wohlwissend, dass es sich um eine komplexe globale Herausforderung handelt.
Die kleine Auswahl der in diesem Paper skizzierten VR-Anwendungen zeigt, welche gravierenden Auswirkungen das Metaverse auf unser Leben, Arbeiten und unsere Gesellschaft haben kann. Neben den Chancen müssen schon heute die zahlreichen Herausforderungen in den Blick genommen werden. Wird die Kluft zwischen denjenigen, die an der neuen digitalen Welt teilnehmen können, und denjenigen, denen es aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist (Digital Divide), weiter wachsen? Welche Rollen werden Künstliche Intelligenzen im Metaverse einnehmen? Menschen werden in Form eines hybriden Lebens immer mehr Zeit in der virtuellen statt der realen Welt verbringen, in der sie zumindest noch essen, duschen und schlafen müssen – mit welchen Konsequenzen?
Aus Sicht der Autor*innen zeichnet sich für die weitere Entwicklung in Richtung Metaverse eine Roadmap der nächsten Schritte ab. Es ist unwahrscheinlich, dass ein solch komplexes Vorhaben wie die Umsetzung eines umfassenden Metaverse vorab am Reißbrett von einer Instanz vollständig konzipiert und realisiert werden kann. Auch wenn das Unternehmen Meta so etwas vielleicht verfolgt, könnte dies durch Interessenskonflikte der zahlreichen involvierten globalen Akteur*innen in einem einsamen Unterfangen enden. Es werden sich daher vermutlich zunächst einzelne Teile des späteren komplexen Metaverse herausbilden. Es ist zu erwarten, dass innerhalb einzelner Branchen Kooperationen und Interoperabilität zunehmen und recht komplexe Interaktionsstrukturen aufgebaut werden. Sie können aufgrund ihrer Fokussierung auf eine Branche nicht als Metaverse im eigentlichen, umfassenden Sinne bezeichnet werden, jedoch Baustein für ein mögliches späteres Metaverse sein. Wir interpretieren diese branchenspezifischen Initiativen daher als „Sub-Metaversen“. Natürlich werden auch bei der Bildung von Sub-Metaversen Interessenskonflikte zu bewältigen sein, aber die Aussicht auf brancheninterne wirtschaftliche Win-win-Situationen kann solche Vorhaben beflügeln. Derartige brancheninterne Sub-Metaversen könnten schon mittelfristig entstehen und bereits relativ komplex sein. Führend könnte auch hier wieder die Gamingbranche sein, die gewinnbringende Synergien erkennt und für Interoperabilität zwischen Spielen und Plattformen verschiedener Hersteller sorgen könnte.9 Auch in der Industrie können, analog zu Industrie 4.0-Entwicklungen, wirtschaftliche Interessen die virtuelle Kooperation zwischen Unternehmen vorantreiben und auf ein neues Level heben. Ein drittes Beispiel sind große unternehmensübergreifende VR-Consumer-Erlebnisse, wie individuell konfigurierbare Einkaufsstraßen, die durch ihre Neuartigkeit attraktiv sind und entsprechende Umsätze generieren können.
In der folgenden Abbildung ist skizziert, wie sich am Beispiel der Gamingbranche aus Spielen bzw. Spieleangeboten und Plattformen ein Sub-Metaverse bilden kann. Durch Zusammenschlüsse mit idealerweise allen denkbaren Sub-Metaversen könnte dann zukünftig ein alles umfassendes Metaverse entstehen.
Offen bleibt, ob in allen Lebensbereichen genügend Treiber existieren, um vorab ein Sub-Metaverse zu bilden. Spätentwickler*innen werden über einen geringeren Gestaltungsraum verfügen als die Wegbereiter*innen. Je frühzeitiger man sich branchenübergreifend über Normen und Standards verständigt, desto wahrscheinlicher ist die spätere Realisierung des „einen Metaverse“. Oder anders formuliert: Etablierte, technisch stark unterschiedliche Sub-Metaversen werden sich später nur schwer integrieren lassen.
Die Verwendung des Begriffes Metaverse ist ambivalent. Einerseits ist es sehr begrüßenswert, dass sein visionärer Charakter Aufmerksamkeit erzeugt. Als Narrativ bündelt er Kräfte und trägt dazu bei, dass xReality-Technologien noch schneller weiterentwickelt werden und zur breiten Anwendung kommen10. Als Beispiel hierfür ist „Industrial Metaverse“ zu nennen11. Hinter diesem Ausdruck stehen verschiedene offene oder prioritäre Konzepte, die sich mit den Einsatzmöglichkeiten von xReality-Technologien hinsichtlich einer zunehmenden virtuellen Vernetzung in der Industrie auseinandersetzen. Hier geht es unter anderem um digitale Zwillinge, industrielle Datenräume, Cybersecurity, Schnittstellen und Standards, aber auch um rechtliche Fragen. Durch die Fokussierung auf den Industriesektor kann ein „Industrial Metaverse“ zwar eigentlich nach den Kernkriterien kein Metaverse darstellen, aber bei seiner Bedeutung als Zugpferd für die Branche wird die exakte Begriffsdefinition hier zweitrangig.
Andererseits wird der Begriff Metaverse aufgrund seiner inhaltlichen Komplexität häufig falsch verstanden. Das führt schnell zu Missverständnissen. Für viele steht er aufgrund der Popularität gleichbedeutend mit den Darstellungen von Mark Zuckerberg. Die Identifikation mit auf Oberkörper reduzierte Comicfiguren, die in einem verpixelten Büro um einen Tisch sitzen, fällt sicherlich vielen schwer und führt eher zu Ressentiments. Diese Visionen sind aber nicht repräsentativ für ein einziges allumfassendes Metaverse – genauso wenig wie die verschiedenen aktuellen virtuellen „Metaverse-Auftritte“ einzelner Unternehmen. Die EU-Kommission scheint hier gegenzusteuern und bringt statt Metaverse jetzt bevorzugt den Oberbegriff „virtual worlds“ ins Spiel.12
Fazit:
- xReality-Technologien und ihre Anwendungen haben schon heute große Bedeutung für nahezu alle Branchen und stellen ein wichtiges Zukunftsfeld dar.
- Den genannten Kriterien nach ist in den nächsten 15 Jahren nicht mit der Realisierung und Etablierung eines umfassenden Metaverse zu rechnen.
- Das Metaverse als Vision ist bereits heute wichtig, da es den Blick über den branchenspezifischen Tellerrand zukunftsorientiert erweitert und zugleich notwendige Prozesse in Richtung einer vorausschauenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit virtuellen Welten anstößt.
Ihre Ansprechpersonen
VDI Research
Prof. Dr. Dr. Axel Zweck
Dr. Matthias Braun
Eva Cebulla
E-Mail: braun@vdi.de
Quellen und weiterführende Links
1 Siehe z. B. Spiegel Online (2021): Facebook heißt jetzt Meta. https://www.spiegel.de/netzwelt/web/facebook-heisst-jetzt-meta-der-digitalkonzern-benennt-sich-um-a-2eaadb52-d023-4478-8c7c-6210aaa4d283.
2 Schanze, R. (2019): Was ist Mixed Reality? – Unterschied zu Virtual & Augmented Reality erklärt. https://www.giga.de/artikel/was-ist-mixed-reality-unterschied-zu-virtual-augmented-reality-erklaert/.
3 Rauschnabel, P. A., Felix, R., Hinsch, C., Shahab, H., & Alt, F. (2022): What is XR? Towards a framework for Augmented and Virtual Reality. Computers in Human Behavior, 107289.
4 Ein Paper von VDI Research zum Thema Mensch-Maschine-Schnittstellen wird in Kürze gesondert erscheinen.
5 Hwang, S. et al. (2023): Electrical, Vibrational, and Cooling Stimuli-Based Redirected Walking: Comparison of Various Vestibular Stimulation-Based Redirected Walking Systems. CHI '23: Proceedings of the 2023 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems. https://dl.acm.org/doi/pdf/10.1145/3544548.3580862.
6 Stephenson, Neal (1992): Snow Crash, New York: Bantam.
7 Bojaryin, J. (2023): Metaverse: ein Schritt in Richtung neue Welt. RedaktionsNetzwerk Deutschland. https://www.rnd.de/digital/metaverse-was-ist-das-was-braucht-man-wer-hat-es-erfunden-KKAGYWHJLRHYRJV7WNQB7RKZTY.html.
8 European Parliamentary Research Service (2022): Metaverse: Opportunities, risks and policy implications. http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2022/733557/EPRS_BRI(2022)733557_EN.pdf.
9 Büchel, J.; Klös, H.-P. (2022): Metaverse: Hype oder “next big thing”? IW-Report Nr. 42. S. 10 ff. https://www.iwkoeln.de/studien/jan-buechel-hans-peter-kloes-hype-oder-next-big-thing.html.
10 The Metaverse Standards Forum: metaverse-standards.org
11 Plattform Industrie 4.0 (2023): Industrial Metaverse. Impulspapier. www.plattform-i40.de/IP/Redaktion/DE/Downloads/Publikation/Industrial_Metaverse.html.
12 European commission (2023): Virtual worlds (metaverses) – a vision for openness, safety and respect. https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/13757-Virtual-worlds-metaverses-a-vision-for-openness-safety-and-respect_en.
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Metaverse: Überblick und Perspektiven
Eine neues VDI Research Paper zum Thema Metaverse